Karlheinz Pichler

Befindlichkeiten des Hier und Jetzt

Neue Arbeiten von Ingmar Alge in der St. Galler Galerie Christian Roellin

Mit grossformatig in Öl umgesetzten Ansichten von Einfamilienhäusern, die eine unermessliche Einsamkeit und Tristesse ausstrahlen, ist der 1973 geborene Vorarlberger Künstler Ingmar Alge weit über die österreichischen Grenzen hinaus bekannt geworden. Ein augenfälliges Kennzeichen dieser Arbeiten war und ist, dass sie von jeglichen Personen leergefegt sind. Die Anwesenheit des Menschen spielt sich allein im Kopf des Betrachters ab. Um so überraschender ist, dass in einigen neuen Arbeiten des Künstlers mit einem Male Personen ins Bild treten. Karlheinz Pichler unterhielt sich mit Ingmar Alge über sein aktuelles Schaffen.

Denkt man an den Maler Ingmar Alge, so assoziiert man damit unweigerlich „fassadenscheinige“ Einfamilienhausansichten. In St. Gallen sind mehrere Bilder zu sehen, die mit der portugiesischen „Costa Verde“ übertitelt sind. Es sind gespenstische Nachtarbeiten sowie eine Szene bei Tag, die einen Mann mit Auto am Strand zeigt. Arbeiten sie ausschliesslich in Serien?

Durchaus nicht. Ich sehe meine Arbeit grundsätzlich nicht als seriell an, auch wenn die Häuser zwischenzeitlich Überhand genommen haben. In St. Gallen wird ein sehr breites Spektrum von Arbeiten aus dem letzten und vielleicht schon aus diesem Jahr gezeigt werden, - auch einige Häuser.

Das Costa-Verde-Thema besteht nur aus drei Arbeiten, wobei die portugiesische Landschaft lediglich einen Hintergrund darstellt. Das Bild mit dem Auto am Strand ist "gebaut" wie fast alle meine Werke. Das heisst ich nehme Versatzstücke verschiedener, meist im Internet gefundener Vorlagen und baue sie mit Hilfe der Bildbearbeitungssoftware Photoshop zusammen. Was bisweilen ziemlich ausufern kann. Kurz: ich geniesse die Künstlichkeit, die daraus entsteht. Rückübersetzt in die Malerei entsteht etwas Seltsames, - Filmsequenzen, Erinnerungsbilder. Im besten Fall erinnern mich die Bilder dann an die Kameraführung in Alan Balls  "Six Feet Under."

Darf man von ersterem ableiten, dass die „Häuserserie“ noch nicht zu Ende ist?
Durchaus. So wenig ich mich bisher als Häusermaler sah, so wenig kann ich mich ihnen entziehen. Diese Arbeiten sind schlichtwegs der Versuch, meine Situation in diesem Lande zu begreifen, und solange ich hier lebe, wird mich das wohl nicht loslassen. Die Häuser sind einfach Ausdruck einer Haltung, die zum Manifest gewordene Einstellung einer Gesellschaft zum Leben. Der schwedische Schriftsteller Hennig Mankell schrieb: "Die Leute bauen sich keine Häuser mehr, sie bauen sich Verstecke." Man könnte vielleicht von Trutzburgen sprechen.

Eines der Gemälde zeigt einen dunkelhäutigen Flüchtling. In den verheerenden Flüchtlingskatastrophen brechen sich die wahnwitzigen Globalisierungsstrategien und menschenverachtenden politischen Tendenzen.  Auch wenn es vordergründig abwegig erscheint, ergänzt dieses Motiv – etwa im Sinne der Isolation – doch auch das Häuserthema. Was hat Sie konkret dazu bewogen, dieses Motiv herauszugreifen?
Das Thema der Migration ist einfach ungeheuerlich. Ich beschäftige mich schon seit längerem damit - auch ausserhalb meiner künstlerischen Arbeit - und obwohl das Bild "Ohne Titel (Flüchtling)" noch Einzelstück ist, habe ich doch noch einiges in dieser Richtung vor. Die Arbeit spiegelt meine eigene Verzweiflung anhand der Komplexität des ganzen Themas wieder. Die Vorlage für dieses konkrete Bild stellt ein Foto dar, das ich im Internet gefunden habe und mich durch seine Ambivalenz gefangen nahm.

Deine bisherigen Arbeiten waren und sind von einer radikalen „Entvölkerung“ geprägt. Wenn schon mal eine konkrete Personen vorgekomme ist, dann nur in weiter Distanz. Warum nun als der Griff zur „Besiedelung“ der Bilder, wie der „Flüchtling“ und das Gemälde „Musik hören“, das einen jungen Mann vor dem Radiogerät sitzend zeigt, demonstrieren?
Die Menschen tauchen auf, weil ich mich weiter vor wage. Mich interessiert nach der gebauten Emigration einfach auch, wie diese Emigration Ausdruck im Menschen selber findet. Die ökonomisch, kapitalistisch dominierte Gesellschaft produziert Einsamkeit, lautet eine Grundthese von Georg Frank, dem Autor von "Mentaler Kapitalismus" und "Ökonomie der Aufmerksamkeit". Diese Sache interessiert mich. Es geht um nichts weniger als um die Frage, wo und wie ich mich befinde: „Wo ist mein Platz, habe ich einen und wie lange?“ Ich stelle diese Fragen in meiner Arbeit nicht immer grundsätzlich, aber sie streifen als Gedanken vorbei und manifestieren sich manchmal beiläufig in Szenen des Alltags.

Trotz des konkreten Auftauchens der Menschen ist auffallend, dass die Bilder nach wie vor eine grosse Einsamkeit, Verlassenheit, Abgeschiedenheit, ein In-die-Welt-geworfen-sein, eine Traurigkeit, eine Melancholie transportieren. Auch der Junge im Raum mit seinem Radio scheint völlig isoliert und sich selbst und dem Medium ausgesetzt zu sein.
Auf diese Frage möchte ich mit dem politischen Schriftsteller Robert Misik antworten, der meint, dass radikale Individualität Einsamkeit erzeugt und gleich die Gegenfrage mit anhängen: „Ist Einsamkeit der Preis für radikale Individualität und Bestandteil des modernen Lebens?“ – Es gibt keine konkreten Antworten soweit das Auge reicht.

Wie passen die Nachtbilder zu den anderen Motiven? Sie wirken wie Alpträume oder Cuts aus einem Thriller, der in der Nacht spielt. Mit einem Wort: „gespenstisch".
Die Nachtbilder, nicht alle, aber die meisten, versuchen Antworten zu geben auf - ich kanns nicht anderes beschreiben - die Ewigkeit des Augenblicks. Jan Vermeer van Delft zum Beispiel setzte eine Magd ins Bild, die Milch einschenkt, um den Augeblick gefrieren zu lassen. Gerhard Richter wiederum spielt mit dem "Verwischen" auf den Augenblick des "Abdrückens" an.

Ich beschäftige mich schon sehr lange mit der Nacht und Nachtbildern, und damit zwangsläufig auch mit Blitzlichtern, die die Umgebung gespenstisch verfremden und im Augenblick festhalten, sie aber gleichzeitig auch grell aufleuchten lassen. Ich würde dieses Thema im Kunstjargon als "Work in Progress" bezeichnen.

Ich schiesse manchmal etwas über das Ziel hinaus, aber in meinem unkonkreten Bilderkosmos ist alles mit allem verbunden.

© Karlheinz Pichler

In: Kultur, Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft, Dornbirn, Jahrgang 22, Nr. 1