Markus Stegmann

Ankommen
ohne
anzukommen

Nomadische
Bewegungen in der
Malerei von
Ingmar Alge

Erreicht und entschlüpft
Nomadische Bewegungen ziehen sich wie rote Fäden durch die Malerei von Ingmar Alge. Den auf ihren Grundstücken solide verankerten Einfamilienhäusern treten ab 2002 zunehmend Bildmotive gegenüber, die vom ungewissen Ankommen an einem mehr oder weniger fernen Ort erzählen. Mit dem Aufbrechen verbindet sich gemeinhin die Hoffnung, dass der erwünschte Ort etwas Neues ermögliche, dass er ungewohnte Blickwinkel öffne, vielleicht sogar eine andere Sicht auf das eigene Leben. Aber wie sieht die Wirklichkeit dieser Orte aus? Wie fühlt sich der lang ersehnte Strand am Meer tatsächlich an, was verspricht die Weite einer Landepiste in fremden Ländern (Abb. X, Palma Nr. 1)? Was geschieht am Ende einer Treppe, beim Blick in einen leeren Swimmingpool, im stillen Moment vor dem Abflug? Und die Flüchtlinge und Migranten, die nicht mehr zurückkehren wollen, die das Elend ihrer Heimat gegen einen Aufbruch ins Unbestimmte tauschen: Was geht ihnen durch den Kopf, wenn sie am neuen Ort auf eine fremde Welt treffen (Abb. X, Flüchtling), wenn sie noch nicht einmal wissen, wo sie die nächste Nacht verbringen werden?
In den Bildern mündet das mit höchst unterschiedlichen Hoffnungen erfüllte Aufbrechen in Situationen des Ankommens, ohne dass die Reisenden den Anschein machen, sie seien auch innerlich angekommen. Dieser Augenblick des Eintreffens und noch nicht Daseins rutscht zwischen den objektiven Gang der Zeit. Er dehnt sich subjektiv beträchtlich aus und führt manche Ungewissheit mit sich. Zwar sehen wir, wie die Figuren physisch auf einem Flughafen gelandet sind, den Meeresstrand erreichen, den Parkplatz, die Golfanlage, den Swimmingpool, das Hotel. Aber sie scheinen in sich gefangen zu sein, gewissermassen in die Falten der Zeit gerutscht (Abb. X, Welle). Und wenn einmal keine Personen auf den Bildern sichtbar sind, strahlen die Motive eine suggestive Leere und Einsamkeit aus, die der Stimmungslage der Personen in anderen Bildern entspricht. In diesen labilen Momenten verweben sich persönliche Erinnerungen, die die Figuren wie einen unsichtbaren Kometenschweif hinter sich herziehen, mit der Ungewissheit über die weitere Zukunft. Nachdenklichkeit spricht aus den Körperhaltungen, Ratlosigkeit. Das Ziel ist erreicht und paradoxerweise im selben Moment wieder entschlüpft (Abb. X, Parkplatz). Die Hoffnungen laufen ins Leere.

Da und dort und nirgendwo
In den Bildern von Ingmar Alge tauchen immer wieder und über einen längeren Zeitraum hinweg Wohnmobile auf. Sie können sozusagen als Leitfossilien einer gegenwärtigen Wohlstandsgesellschaft betrachtet werden. Jederzeit ermöglichen sie die Flucht aus dem Alltag: Es entspricht ihrem Konzept, auf Reisen mobil und unabhängig zu sein, jederzeit bereit, an einen noch schöneren Ort zu fahren. Draussen zieht das Fremde vorbei, während drinnen das Vertraute bleibt. So ergibt sich die seltene Möglichkeit, das gewohnte Umfeld beizubehalten und gleichzeitig in immer neue Regionen vorzudringen.
Vergleichbar der Rezeption der Hausmotive vermuten wir Personen im Inneren, können dies aber nicht überprüfen, weil die Fenster verschlossen sind. Die Fahrzeuge befinden sich zumeist in ausgedehnten, baumlosen Landschaften, irgendwo am Meer, an jenen Sehnsuchtsorten der westlichen Welt, die Erholung und Entspannung versprechen (Abb. X, Mt. St. Michel Nr. 2). Doch was wirklich im Inneren vor sich geht, bleibt verborgen. Allerdings lösen die Bilder diverse Vermutungen aus, was drinnen geschehen könnte. Nicht nur friedliches Beisammensein oder gemeinsame, glückliche Betrachtungen des weiten Meeres sind vorstellbar, sondern die ganze Bandbreite menschlicher Existenz mit all ihren Abgründen bis hin zu Mord und Totschlag. Am Schluss unserer sich wie von selbst immer weiter fortspinnenden Vorstellungen steht die banale Frage: Sind überhaupt Leute in den Fahrzeugen? Eine sichere Antwort gibt es nicht. Doch gerade dadurch setzen sich unsere Mutmassungen unbeirrt fort. Die Wohnmobile zeigen sich als kleine, uneinsehbare Gehäuse auf den weiten Bühnen der Landschaft. So klein sie sind, so fulminant ist ihre Erzählkraft.
In den Bildern der letzten Jahre treten immer wieder brennende soziale Fragestellungen auf. Darstellungen von Migranten in Flughäfen oder am Meer (Abb. X, Wanderung) lösen Fragen nach dem Verhältnis zwischen armen und reichen Ländern aus. Was geschieht beim Aufeinanderprallen der gegensätzlichen Welten? Welche Erwartungen bringen die Migranten mit? Und wie begegnen wir ihnen?
So konträr die sozialen Wirklichkeiten auch sind, so unterschiedlich die Gründe, eine grosse Wegstrecke zurückzulegen: Sowohl die Wohnmobilreisenden als auch die Migranten wollen ihrer Umgebung entfliehen, sei es dauerhaft oder auf Zeit. Selbst wer in äusserem Wohlstand lebt, wird von der Sehnsucht nach Ferne gepackt und begegnet, am Ziel seiner Reise angelangt, einer landschaftlichen Weite, die plötzlich höchst ambivalent in Erscheinung tritt: als Befreiung von räumlicher und gesellschaftlicher Enge, zugleich aber auch als grosse Leere. Sie konfrontiert das Individuum mit sich selbst, löst in der Folge Verunsicherungen und Irritationen aus und lässt schliesslich Gefühle der Einsamkeit, Verlassenheit und Melancholie aufkommen. An diesem Punkt begegnen sich die Reisenden beider Welten, wenngleich in ökonomisch komplett verschiedenen Verhältnissen.
Wer bin ich an diesem einsamen Strand, den ich mir immer erträumte, wo ich nach langer Reise schliesslich eintreffe, dort aber nichts anderes finde als mich selbst, um plötzlich festzustellen, dass sich hier keine beruhigenden Antworten finden, keine neue Zuversicht und Lebenskraft, sondern sich verwirrende Fragen auftun nach dem, was ich bin oder zu sein glaube? So scheinen die Figuren im Gespräch mit sich selbst zu sein, geradezu in sich gefangen, unabhängig, aus welcher Welt sie kommen. Am vermeintlichen Ort der Sehnsucht tritt plötzlich ein Gefühl existentieller Bedrohung zutage, vor allem dann, wenn auf einmal die allgegenwärtige Zerstreuung der westlichen Konsumwelt fehlt. Das Ich ist mit sich selbst allein und gerät in einen Zustand der Melancholie. Niemand ist vor diesen Fragen nach dem Woher und Wohin gefeit. Wohlstand schützt ebenso wenig wie Armut. Die Errungenschaften technischen Fortschritts stehen als stumme Kulissen daneben und verstärken nur das Gefühl innerer Entleerung. Das elektrische Licht macht die Treppe noch gespenstischer (Abb. X, Treppe), die funkelnden Lampen der Landebahn verwandeln die Situation in eine unheilvolle Fata Morgana, die fröhlich gemeinte, farbige Beklebung des Wohnmobils lässt dieses umso trostloser in der unwirtlichen Weite des Strandes erscheinen (Abb. X, Roskoff).
Die Swimmingpools und Strände versprechen ein schönes, unbeschwertes Leben, die Landebahnen und Wartesäle persönliche Freiheit. Wie die Darstellungen der Einfamilienhäuser sind sie Symbole privater Hoffnungen und Träume. So gesehen können die Bildmotive des nomadisierenden Unterwegsseins als kontinuierliche Fortsetzungen der Metaphorik der Häuser gelesen werden. Doch im Unterschied zu diesen finden wir häufig Personen, die am Ende einer Reise angelangt zu sein scheinen, auch wenn sie manchmal nur auf einen leeren Parkplatz am Stadtrand führte. Hier sind sie nun, kauern am Boden, lehnen an Geländern, sitzen unsichtbar in ihren Wohnmobilen, plötzlich mit sich und der Landschaft allein. Dass sich die Betreffenden möglicherweise an einem persönlichen Wendepunkt befinden, verstärkt das Beklemmende der Situation: Beginnt für den Flüchtling das erhoffte bessere Leben? Steht die Landebahn tatsächlich für einen persönlichen oder beruflichen Neubeginn? Und was löst ein einsamer Nachmittag an einem menschenleeren Strand aus? Den Entschluss, eine Weiche für die Zukunft zu stellen oder eine Flasche zu öffnen? Die Bilder legen sich nicht fest, sondern zeigen prekäre Situationen, die zu banalen oder ganz entscheidenden persönlichen Momenten führen können. Belangloses und Bedeutendes liegen zum Verwechseln nah beieinander. Allzu oft erweist sich erst im Nachhinein, ob ein Entschluss wichtig war oder nicht, was den Situationen eine schillernde Fatalität verleiht.

Versunken in sich
Gelegentlich wenden sich die Figuren von uns ab und schauen gemeinsam mit uns in die Weite des Bildes, in die Tiefe hereinbrechender Nacht. Das Motiv der Rückenfigur ist eines der charakteristischen Merkmale der Malerei der Romantik. Besonders Caspar David Friedrich (1774 – 1840) stellt im Sich-Abwenden der Figuren ein stilles Bündnis mit den Betrachtenden her. Wir nehmen sozusagen dieselbe Betrachtungsperspektive ein, sehen uns als Doppel im Bild (Abb. X, Mondaufgang am Meer, 1822). Da wir den Gesichtsausdruck der Bildfiguren nicht wahrnehmen können, bleiben uns deren innere Regungen verborgen, was wiederum das Geheimnis der magischen Augenblicke bei Sonnenuntergang, bei eintretender Nacht oder beim Schein des Mondes um eine Dimension erweitert und uns ein wenig von der Schwerkraft und Materialität der Erde nimmt. Die Dunkelheit hüllt die Personen in diffuse Unbestimmbarkeit, so dass sie sich der Wirklichkeit ein Stück weit entziehen. Die nomadischen Bilder von Ingmar Alge reflektieren in mancherlei Hinsicht die Stimmungslagen und psychischen Befindlichkeiten der Personen bei Caspar David Friedrich zwischen Einsamkeit, Verlorenheit und Melancholie (Abb. X, Der Mönch am Meer). Natürlich handelt es sich um moderne Nomaden, die gewohnt sind, grosse Entfernungen ganz unromantisch zurückzulegen, egal ob im Auto, Wohnmobil oder Flugzeug. Natürlich hat sich die Wirklichkeit grundlegend gewandelt, nicht aber die elementaren Bedürfnisse der Menschen, ihre Sehnsucht nach einem glücklichen Moment, einer besseren Zukunft, vielleicht sogar einer neuen Welt. Sie wollen aus ihrer Lebenssituation ausbrechen, wie auch immer sie sich darstellt, und sei es nur für wenige Minuten des Innehaltens.
Während sich bei Caspar David Friedrich das Gefühl der Einsamkeit in der stillen Grösse der Natur verliert und gelegentlich sogar in ihr aufgeht, finden sich die Personen bei Edward Hopper (1882 – 1967) im kalten Neonlicht der Grossstadt gefangen. Mit leeren Blicken sitzen sie an der Bar (Abb. X, Nighthawks, 1942), schauen stumm aus einem Hotelzimmer ins gleissende Licht des Morgens oder scheinen miteinander zu reden und schweigen sich doch an. Die Bilder von Ingmar Alge wirken im Vergleich abstrakter als jene Edward Hoppers, doch die Einsamkeit der dargestellten Figuren ist durchaus vergleichbar. Hier wie dort erleben wir melancholische Momente des Insichversunkenseins. Die Dargestellten sind im selben Moment an- und abwesend. Ihre unmittelbare Umgebung zeigt sich als Resonanzkörper ihrer seelischen Verletzbarkeit und verstärkt die Empfindungen von Einsamkeit und Melancholie. Orte und Figuren verwachsen zu Symbiosen, die sich wechselseitig in ihrer prekären Labilität bestätigen, so dass wir uns dunklen Vorahnungen kaum entziehen können. Die Nachdenklichkeit der Personen erreicht eine bohrende Dringlichkeit, doch ihr Schicksal scheint besiegelt und somit nicht mehr veränderbar. Je intensiver wir nach den jeweiligen Lebensumständen forschen, desto sichtbarer wird das Damoklesschwert drohenden Unheils, das über den Figuren schwebt.
Ein abschliessender Vergleich mit der Malerei von Tim Eitel (geb. 1971) – er hat denselben Jahrgang wie Ingmar Alge – zeigt, dass die Thematik der diffusen seelischen Verwundung und des fatalen Unheils kein Stoff vergangener Epochen ist, sondern auch andere Kunstschaffende der jüngeren Generation beschäftigt. Im direkten Vergleich sind die Bilder der letzten Jahre von Tim Eitel dunkler und weniger buntfarbig, was ihnen zunächst eine grössere Bedrohlichkeit verleiht (Abb. X, Aufstieg, 2010). Im Unterschied zu Ingmar Alge wähnen wir uns gelegentlich auf einer orakelhaften Bühne, inmitten einer mehrdeutigen, theatralischen Inszenierung, deren scharfe Hell-Dunkel-Kontraste existentielle, manchmal sogar barock anmutende Grundtöne anschlagen. Doch die Einsamkeit und Melancholie der Figuren bei Tim Eitel und Ingmar Alge sowie die motivisch aufflackernde soziale Wirklichkeit in beiden Werken geben sich als interessante Parallelen zu erkennen, die bei allen stilistischen Differenzen ein gemeinsames Themenspektrum umreissen.

Das Glück des Glücks
Nach einem Jahrhundert formaler und inhaltlicher Explosionen und den emotionalen Ausbrüchen der 1980er Jahre steht die Malerei heute häufig etwas erschöpft und ratlos neben sich. Verwirrend vielzählig, geradezu inflationär sind die malerischen Möglichkeiten, aber auch die Gefahren der Repetition und Entleerung. Relevanz und innere Notwendigkeit sind hingegen oft nicht klar erkennbar. Insbesondere die Figuration – von diversen politischen Systemen des 20. Jahrhunderts systematisch missbraucht – hat an Strahlkraft verloren. Umso riskanter ist es, sich heute künstlerisch mit figurativer Malerei zu beschäftigen und nach formalen und inhaltlichen Lösungen zu suchen, die nicht allein der Zeit entsprechen, sondern über sie hinausweisen. So lässt sich die Ausgangslage Ingmar Alges skizzieren, der trotz schwieriger Vorzeichen das Risiko figurativer Malerei nicht scheut. Seiner Arbeit liegt die Überzeugung zugrunde, dass die grossen Lebensfragen zu allen Zeiten ihre selbstverständliche Berechtigung haben. Interessanter, als vordergründige Antworten zu geben, die es ohnehin kaum geben kann, ist die Befragung dieser Fragen. Und genau dies findet in den Bildern statt.
Jenseits aller Unterschiede und Abweichungen zu vergleichbaren Positionen der neueren und älteren Kunstgeschichte fokussiert Ingmar Alge in der flächigen Weite seiner Malerei eine existentielle Stimmungslage der Einsamkeit und beunruhigenden Leere, wie sie spätestens seit der Romantik quer durch die Malereigeschichte mäandert. Die Grundsatzfragen nach dem Woher und Wohin des Menschen kann selbst die Spass- und Zerstreuungsgesellschaft der westlichen Welt auf Dauer nicht ganz verdrängen. In seinen Bildern des nomadischen Unterwegsseins zeigt Ingmar Alge, dass ein schlichter Ortswechsel diese elementaren Fragen auf höchst beunruhigende Art auslösen kann. Die Sehnsucht nach dem fernen Strand oder dem besseren Leben fernab der Heimat führt zur Erfahrung, dass die elementaren Lebensfragen häufig ausserhalb des gewohnten räumlichen Umfelds aufbrechen. Mit bemerkenswertem soziologischem Gespür und emotionaler Empathie führt Ingmar Alge vor Augen, dass die genannten Fragen unterschiedslos alle betreffen, unabhängig von ihrer Herkunft, dass jedoch weder Wohlstand noch Armut sie beantworten können. Obwohl wir – mobil wie keine Generation zuvor – an die Ziele unserer Sehnsucht reisen können, entkommen wir nicht uns selbst. In letzter Konsequenz mutiert der Traum vom besseren Leben zu einer alptraumartig herumgeisternden Schimäre. Und struppige Orte im Nirgendwo entlarven unsere Sehnsucht als Projektion, als Flucht vor uns selbst. Aber warum wollen wir überhaupt vor uns fliehen? Ist es die Furcht vor der Fragilität des Lebens, die uns jederzeit aus der Bahn werfen kann, oder die Urangst vor der unausweichlichen Endlichkeit unserer Existenz?
Gerade in ihrer tristen Verlorenheit zeigen uns die Figuren – und das ist bei aller Melancholie die versöhnliche Botschaft der Bilder –, dass sich die unstillbare Sehnsucht nach Glück nicht unterdrücken, rational abstellen oder intellektuell sublimieren lässt. Auf die Gefahr hin, an einem fernen Strand innerer wie äusserer Leere anheim zu fallen, gehört es zu den elementaren menschlichen Antrieben, sich immer wieder neu und mit aller Macht ein wenig Glück und damit beruhigenden Abstand zur fatalen Endlichkeit zu erhoffen. Offensichtlich nimmt der innere Drang nach Glück die Trostlosigkeit am Strand der Träume gern in Kauf, um bald darauf wieder einen neuen Plan zu schmieden, das Glück irgendwann, irgendwo doch noch zu finden.

© Markus Stegmann

In: Ingmar Alge, Galerie der Stadt Backnang,
Verlag Hatje Cantz, Ostfildern 2013, mit dem Werkverzeichnis der Gemälde 1999-2012