Elisabeth Fiedler

INGMAR ALGE – Fliehkraft

Nicht Stille, sondern Lautlosigkeit, gefrorene Situationistik und seltsame Entrücktheit, die Zeitlosigkeit, Einsamkeit, Trostlosigkeit und eine in Szene gesetzte Geworfenheit vermittelt, sind charakteristisch für die Arbeiten von Ingmar Alge.
Ausgehend von seinem Interesse an gesellschaftspolitisch relevanten, ökologisch, ökonomisch sowie infrastrukturell sich auswirkenden Problemstellungen in Bezug auf den Einzelnen und die Gemeinschaft stellt sich für ihn die Frage, wie Kunst innerhalb dieses Kontextes intervenieren kann.

Beeindruckt von der amerikanischen Kunst der 1980er und 1990er Jahre, wie der sozialpolitisch interventionistischen Kunst von Jenny Holzer oder Barbara Kruger, der Beschäftigung mit kollektiv-trivialen Mythen der westlichen Alltagskultur bei Richard Prince und in Reflexion auf die Malerei der Jungen Wilden in Österreich untersucht er innerhalb seiner Malerei die Ambivalenz eines emotionalen Zugangs zur Gesellschaft in ihrer zunehmenden Vereinsamung und Isolation sowie die Möglichkeit formaler Präzisierung archetypischer Verhaltensweisen, Muster und Sehnsüchte des Daseins.

Wurden aus der Erkenntnis der Bedeutung des Unbewussten zu Beginn des 20. Jahrhunderts innerhalb von Surrealismus, Dadaismus und Pittura Metafisica neue Produktionstechniken, wie die Frottage oder die Collage sowie tiefenpsychologisch verschlüsselte Themenkomplexe geschaffen und bearbeitet, entwickelte der Kubismus aus dem Bewusstsein der Hybridität, Zersplitterung und Zerlegbarkeit der Welt sowohl analytische, als auch synthetische Vorgehensweisen, um der Vielschichtigkeit von rational und emotional wahrgenommener Realität näher zu kommen. Die Auseinandersetzung mit den Phänomenen Morbidität oder modernes Nomadentum innerhalb der amerikanischen Gesellschaft seit den 1920er Jahren mit besonderer Fokussierung auf den Menschen und seine Beziehung zur Umwelt konzentrieren sich ein weiteres Mal im künstlerischen Werk von Dan Graham, der das Subjekt nie isoliert, sondern immer im sozialen Kontext betrachtet.

Gleichzeitig entwickelte sich das Medium Film, dessen Sequenzierung und Zusammensetzung einer scheinbaren Wirklichkeit sich immer wieder mit der bildenden Kunst trifft und überschneidet.
Wichtig für Ingmar Alge in diesem Zusammenhang ist die Arbeit Edward Hoppers, dessen kühle, realistisch erscheinende Bildwelt das Thema der Einsamkeit und parallel dazu die Geworfenheit des Menschen im existentialistischen Sinn aufwirft. Die unauslotbare Weite und Ausgesetztheit in Hoppers Bildern, die konstruierte Lichtführung und verstummte Atmosphäre inspirierte Alfred Hitchcocks Psycho ebenso, wie Ridley Scotts Blade Runner, Dario Argentos Profondo Rosso oder Wim Wenders The Million Dollar Hotel.

Heimatlosigkeit, Realitätsüberschneidungen, Zeitverschiebungen und Abgründigkeit sind auch Merkmale der Filme von David Lynch, dessen Werk ebenfalls wichtig für das Verständnis der Arbeit von Ingmar Alge ist.
Der Mittelstand, das Aufbrechen geglaubter Geborgenheit der Kleinstadt, der Familie als gesellschaftsrelevanter Konstante, die Hervorkehrung der dunklen Seite von unterdrückter Gewalt und Sexualität, des Irrationalen und Verschwiegenen sind Parameter, die in Alges Arbeit ebenso Eingang finden, wie die Formung des Horriblen aus dem Banalen oder des Mystischen aus dem Alltäglichen.
Die Ambivalenz zwischen Banalem und Essentiellem findet Alge in der Serie American Psycho, six feet under von Allen Ball ebenso, wie in den Filmen des Österreichers Ulrich Seidl, in der Literatur vom Oulipo-Mitglied Georges Perec bis zu den Büchern Martin Amis. Auch die Verschneidung unterschiedlicher Medien, wie Film, Theater oder Chatroom, wie sie Constanze Rum in ihrer Arbeit X Characters: RE(hers)AL anwendet und als „Kosmologie veränderter Identitäten kartographiert“ wird, interessiert Alge.1

Er selbst wählt allerdings ganz bewusst das Medium Malerei, innerhalb dessen er in Folge der postmedialen Entwicklung neue Diskursebenen öffnet. Geboren im Vorarlberger Ort Höchst thematisiert er immer wieder auf diesen rückverweisend das Thema der Immanenz einzelner gesellschaftlicher Gruppen.

Präsentieren sich seine Einfamilienhausdarstellungen auf den ersten Blick wie dokumentarische Untersuchungen eines gesellschaftlich und sozial relevanten Phänomens, erkennt man bei näherer Auseinandersetzung das scheinbar Dokumentierte als Konstrukt des Künstlers. Das heißt, er nimmt Versatzstücke verschiedener, im eigenen Kopf, in Archiven, im Internet gefundener Vorlagen und „baut“ sie mit Hilfe der Bildbearbeitungssoftware Photoshop zusammen. So werden Bilder aus der eigenen Erinnerung, archetypische Eindrücklichkeiten mit medialen Informationen verschmolzen, strahlen eine künstliche Seltsamkeit aus und erinnern an Filmstills. Viele seiner Arbeiten weisen dem entsprechend Maße im Filmformat, d. h. im Verhältnis 16:9 aus.

Die soziologische Bearbeitung von Einfamilienhäusern hat vornehmlich Pierre Bourdieu in zahlreichen Untersuchungen über die Entwicklung dieses Häusertypus in Frankreich Mitte der 1980er Jahre geleistet. In „Der Einzige und sein Eigenheim“ wird nicht nur auf die Geschichte der Wohneigentumsbildung vor allem seit der französischen Revolution hingewiesen, es werden auch die damit in Zusammenhang stehenden Probleme der Landschaftszersiedelung, Innenstadtverödung und deren ökologische Auswirkungen thematisiert. Der Wunsch nach einem eigenen Haus wurde untersucht als „Resultat des Zusammenspiels der alten Sehnsucht nach privatem Glück und vererbbarem Besitz mit den Auswirkungen eines liberalen Schwenks in der Wohnbaupolitik ab Mitte der 1970er Jahre. Durch die vermehrte Vergabe persönlicher Kredite wird seither der individuelle Hausbau gegenüber dem gemeinschaftlichen Wohnungsbau (und damit die Geschäfte der Banken und Bauunternehmer) gefördert; mit allen Folgen z. B. in Form einer Isolierung der Eigenheimbesitzer von Kollegen, Nachbarn, kulturellem Leben und der Fixierung aufs Private…“2
Das Verkaufsgespräch wird als „erster Schritt einer `Entsagungsarbeit` gesehen, die i.d.R. ihre Fortsetzung im endlich bezogenen Haus findet, wo etwa die schlechte Isolierung, der fehlende Keller, der Lärm der Rasenmäher am Wochenende die erstrebte Freiheit auf ein dem einer Mietwohnung sehr ähnliches Maß reduzieren, noch dazu erkauft mit häufig langen Wartezeiten von und zur Arbeit.“3 Und „dadurch, dass er sich häufig auf für ihn zu groß angelegte, weil eher auf seine Ansprüche als auf seine Möglichkeiten zugeschnittene Projekte einlässt, bringt er sich selbst in eine von übermächtigen Zwängen beherrschte Lage.“4

Ingmar Alge zitiert nun diese Architektur der 1960er und 1970er Jahre, präsentiert sie in ihrer tristen Fassadengestaltung mit verschlossenen Türen und Fenstern, deren einzige Anzeichen einer Verbindung zur Außenwelt mittels einer frisch begangenen verschneiten Garageneinfahrt als analoges, vom Menschen unregelmäßig markiertes Zeichen seines Daseins und der Satellitenschüssel als Zeichen der digitalen Verbindung zur restlichen Welt angedeutet werden. Reality shows, Einkaufsmöglichkeit, Partnervermittlung, Objektivität vortäuschende Medienberichterstattung ersetzen hier offensichtlich eine tatsächliche Kontaktaufnahme mit anderen Menschen.
Vereinheitlichte Fassadenformen, die im Gegensatz zum individuellen Lebenswunsch die tatsächliche Normierung der innerhalb der Häuser stattfindenden Lebensweisen nach außen spiegeln, suggerieren das Bollwerkhafte, Unnahbare.
Gesetzt in unendliche Weiten oder eingezwängt hinter dicke Hecken auf Minimalbaugrund vermitteln die ergrauten Fronten Rückzug und Verbarrikadisierung nach Außen hin. So steht der idyllischen Vorstellung von privater Intimität Vereinsamung, Kälte und Verrohung entgegen. Von Familienkatastrophen, über Entführungen, Verwahrlosung bis hin zu vergrabenen Leichen reicht hier die Assoziationskette. Die klassische Form von Ölmalerei auf Leinwand entpuppt sich dabei als Camouflagetechnik, hinter der sich das Abgründige als Version des sozialen Fortschritts tarnt.

Wird die archetypische Hausform, die für Geborgenheit des Menschen steht, hier als entseelt dargestellt, sehen wir uns in anderen Arbeiten mit entindividualisierten Personen konfrontiert.
Die einzige von Alge benannte Person, die unbetitelt allerdings auch nicht identifizierbar wäre, ist Brendan Adams. Der aus Kapstadt gebürtige Musiker liegt mit seiner Gitarre in seiner Hand auf dem Rücken in einem trüben, unendlichen Universum, innerhalb dessen er mit Hilfe eines gläsernen Fernrohrs etwas auszumachen sucht. So scheint die Musik als allgemein verständliche Sprache im Bewusstsein des Nirgendwo, der zeitlichen und räumlichen Barrierelosigkeit, die Durchlässigkeit und Unmöglichkeit eindeutiger Informationen zu bestätigen.

Das grelle Licht dreier Laternen über einem fahrzeuglosen Parkplatz, gekennzeichnet durch abstrahierte Grasflächen scheint von einem uferlosen düsteren Licht, das sich weder erheben, noch versinken kann, zu korrespondieren.
Der im Zentrum des Bildes in Rückenansicht stehende junge Mann, von dem nicht klar ist, ob er angekommen ist oder auf Abfahrt wartet, ist sichtbares Zeichen einer Zwischenwesenheit, die weder Ort noch Zeit kennt.

Ähnlich scheint die Situation zweier Personen an einem Terminal, der sich lediglich durch die Zahl 7 erschließt. Charakteristischer Weise bildet das Setting dieser Arbeit die Boarding Area eines Flughafens, innerhalb dessen sich in den Worten Alges funktionale Empathielosigkeit breit macht. Die Verschlossenheit der Frau mit verschränkten Armen scheint der hinter ihr sich befindliche mobil telefonierende Mann zu widersprechen. Doch die Vereinsamung, die Ortlosigkeit korrelieren hier mit der Kälte und Zeitlosigkeit des an der Wand reflektierenden Lichts. Die Konzentriertheit auf den Augenblick lässt das Bild des Stockens jeglicher Kommunikation oder Narration zu einem Still erstarren, innerhalb dessen einerseits etwas Endgültiges, andererseits die Suche, das dem Flughafen inhärente Weiter, aber auch die Zweifel jeglicher Selbstbestimmung physisch spürbar erscheint.

Dieses „aus der Welt genommen sein“ referiert Alge besonders in der Arbeit „Yoga“, in der von einer Frau mit Sonnenbrille auf einer Matte vor einem an Gerhard Richter erinnernden durchlässigen und unbestimmbaren perspektivenlosen Hintergrund ihre Übungen ausführt.

Grundsätzlich erscheinen die Figuren innerhalb der gebauten Settings anonym, starr, wortlos und unbestimmt. Die kühle Atmosphäre innerhalb der Bilder wird jeweils gesteigert durch extreme Licht- und Schattenführungen, mit der Alge sich eingehend bei Vermeer, Giorgio de Chirico, aber auch bei Edward Hopper auseinandergesetzt hat.
Die gegenseitige Ergänzung von Licht und Inhalt spielen in Alges Arbeit eine ebenso wichtige Rolle, wie die Komprimierung von Zeit, die größtmögliche Konzentriertheit auf den Augenblick, um die Verhältnismäßigkeit der Leistungsfähigkeit von Malerei in Bezug auf den Inhalt zu untersuchen.

Extremes Gegenlicht bewirkt, das die genaue Erkennbarkeit des Sichtbaren nahezu verunmöglicht wird, man selbst aber in volles Licht gestellt erscheint, setzt er in einer Arbeit mit der bis jetzt einzigen identifizierbaren Figur. Bezeichnender Weise ist dies ein Flüchtling, der den Betrachter von einem erhöhten Balkon aus direkt anblickt. So konfrontiert Alge uns mit dem Spannungsverhältnis der Anonymität von Migranten mittels genauer Identifizierbarkeit, kehrt die üblicher Weise eingenommene Perspektive der „Heimischen“ auf das Fremde um und zieht den Betrachter als beleuchteten Adressaten in das Bild hinein. Der fokussierte Dachbalkon eines Hauses scheint brüchig, das Mauerstück unter dem rechten Fuß des Flüchtlings droht uns auf den Kopf zu fallen. Tom Holert und Mark Tekessidis schreiben und beschreiben in diesem Zusammenhang entstehende Siedlungen als „Heterotypien, das heißt sie schließen die Utopie eines perfekten Lebens frei von Belästigung in sich ein. Auf der anderen Seite dehnen sie (die Siedlungen) sich aggressiv aus, d.h. sie verbrauchen große Flächen von Land und schränken dabei die Bewegungsfreiheit anderer Bürger ein.“5

Als bezeichnendes Einführungszitat, das ebenso für die Arbeit Alges stehen kann, setzen sie den Satz Giorgos Seferis:“Es gibt nur noch die Welt hier und anderswo, so wie die Welt eben ist, und niemand kommt irgendwo an.“5
Eben diesen Buchtitel wählt Alge als Ausstellungstitel, der als Naturgesetz auf die Veränderungen einer zunehmend konstruierten und dynamisierten Welt Bezug nimmt, in der die Illusion von Privatheit, Zurückgezogenheit, Rückbezüglichkeitsmöglichkeiten auf Vertrautes endgültig als obsolet ausgewiesen erscheint.

© Elisabeth Fiedler

In: Ingmar Alge, Fliehkraft,
Neue Galerie Graz am Landesmuseum Joanneum, Graz 2007